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Trotz Alledem - Autobiographie

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Verfasser der Rezension: Prinz Rupi
Lebensbeichte eines Giganten unter den Liedermachern
Rezension aus Deutschland vom 10. November 2019
Liedermacher Hannes Wader beginnt seine umfangreiche Lebensgeschichte mit einer charmanten Flunkerei: Er schreibe nicht gern! Wer das wirklich glaubt, kennt Wader schlecht. Denn tatsächlich verdichtet der Meister seit mehr als einem halben Jahrhundert sein Leben und seine Erfahrungen in Songtexten, die Generationen berühren. Und anhand eben dieser Liedtexte bannt Wader sein ungewöhnliches Leben auf 591 mitreißenden Seiten.

… Ich lernte Gitarre, ich dachte, dann
komme ich leichter an Mädchen ran
ich sang für umsonst auf jeder Fete
wegen der Mädchen, heute sing' ich für Knete

Schon die Geburtsadresse verrät, dass Hannes Wader im Zeichen des Pegasus die Weltbühne betritt. Im Poetenweg 25, in Hoberge nahe Bielefeld, wird der ungekrönte König der deutschsprachigen Songwriter am 23. Juni 1942 geboren. Im Poetenweg! Gibt es Zufälle oder ist alles im Fatum bestimmt?



Wader schildert sein Leben, aufrichtig, ehrlich und vor allem schonungslos gegen sich selbst. Sein Elternhaus ist hart und bietet kaum Platz für Liebe und Geborgenheit. Bei einem Fronturlaub des Vaters gezeugt und auf dem Höhepunkt des von den Deutschen angezettelten zweiten Weltkriegs geboren, wächst der kleine Hans mit zwei Schwestern auf. Er lebt die bildungsferne Kindheit kleiner Leute ohne jeden bürgerlichen Wohlstand in Kriegswirren, Trümmern und Massenarmut. Seine Umgebung besteht zu einem spürbar deutlichen Teil aus unverbesserlichen Altnazis mit eiskalt tötenden Blicken.

Früh schon wird Waders westfälischer Dickschädel deutlich. Der Junge will seinen eigenen Weg gehen. Er ist jedoch scheu und hält sich lieber als Beobachter im Hintergrund. Als ein Radio ins Haus kommt, erwacht seine Liebe zur Musik. Wenn Hans Albers Lied »Auf der Reeperbahn nachts um halb eins« aus dem Kasten tönt, singt er laut mit. Kommen Nachbarn zu Besuch, darf er das Lied vortragen, dreht aber seinem Publikum den Rücken zu. Zwar sucht er schon in jungen Jahren Aufmerksamkeit, Anerkennung und träumt von Aufmerksamkeit. Doch gleichzeitig ist er scheu und meidet Augenkontakt mit seiner Umwelt. Eine Rampensau wird Wader nie werden.

Wo ich herkomme, dahin gibt es für mein Zurück

vom Leben an fremde Ufer gespült bin ich zum Glück
nie zu hart gestrandet, doch auch nie wirklich gelandet
und zu Haus gefühlt hab ich mich nie, wo ich auch war
Das ist okay so, damit komme ich klar


Nach der Schule wird Wader in eine Lehre als Dekorateur in einem Bielefelder Schuhgeschäft gesteckt. Die Mutter hat erkannt, dass er gern malt und möchte, dass der Junge »was Künstlerisches« macht. Künftig trifft man Lehrling Hänschen in der Rio-Milchbar, wo er eine Erdbeermilch für vierzig Pfennig schlürft. In Oetker-Town kommt er auch in Berührung mit Clubs, in denen Musik gespielt wird. Der Bunker am Ulmenwall und der Jazzclub Eisenhütte sind berühmte Treffpunkte jener Zeit. Er wird von den Gedanken der bündischen Jugend, der Pfadfinder und Wandervogelbewegung – einer Vorform der umherschweifenden Hippies – inspiriert, und er findet die als »Zigeuner« verschrienen Sinti und Roma toll, weil sie fahrend weit herumkommen.

Hannes lernt andere Musiker kennen, mit denen er gemeinsam spielt. Seine erste Band widmet sich dem Skiffle. Mit der Gruppe tritt er erstmals auf. In den Arbeitspausen übt er Klarinette. Das passt seinem damaligen Chef nicht, er kündigt dem jungen Mann, der ihm daraufhin impulsiv Schuhe »gegen den Wanst«wirft. Mit seiner »Arschkriecherballade« setzt Wader ihm später ein Denkmal.

»Ich habe die Menschen jetzt, wie sie wirklich sind, geseh'n,
und ich krieche auch nie wieder, davon wird man gar nicht schön.
Ich will wissen, alter Mann, was ist mit den Leuten los,
wenn sie schon nicht hübscher werden, warum kriechen sie denn bloß?«
»Schwer zu sagen«, sprach der Mann, »manch einer kriecht ja auch nicht gern
und meint, er muss es tun, um die Familie zu ernähr'n.
Dem andern macht es Spaß, er schafft sich Frau und Kinder an
als Vorwand – nur damit er besser Arschkriechen kann.«


Bielefeld wird dem Freigeist Wader zu eng. Er zieht weiter. Hamburg dient ihm eine Weile als Hafen. Vor dort lockt ihn das elektrisierende Wort »Berlin« wie die Motte zum Licht. 1964 zieht er in die Frontstadt und bewohnt ein Zimmer als Untermieter eines Rentnerpaars in der Kreuzberger Fichtestraße. Stets hungrig und nahe dem Abgrund schlägt er sich als Hilfsarbeiter, Postbote und Straßenmusikant durch. Mit Helga begegnet er der ersten großen Liebe.

Hans, der Träumer, schreibt erste Lieder und vertont sie. Von den musikalischen Modeströmen der Zeit bleibt er weitgehend unberührt. Er verehrt den französischen Chansonnier George Brassens und hört die Songs des US-Lyriker Bob Dylan. Tatsächlich fühlt er sich Walther von der Vogelweide näher als John Lennon.

Sein Outfit trägt zu seiner wachsenden Bekanntheit in der Musikszene bei: Bald zeigt er sich mit entsprechendem Bartkleid als Musketier D'Artagnan, später wechselt er in ein Buffalo-Bill-Outfit. Wader wird sich nie als Rock'n'-Roller verstehen, wenngleich sein Lebensweg viel Rock'n'Roll zeigt .

Im Sender Freies Berlin hört Hannes Wader erstmals Lieder von Franz Josef Degenhardt, mit dem ihn später eine Freundschaft verbinden wird. Er ahnt, dass er mit seinem Interesse am deutschsprachigen Liedgut kein Spinner ist, sondern Teil einer neu erwachten kulturellen Bewegung, die vielleicht sogar im Trend liegt. Clubs, in den man ihn künftig erleben kann, heißen »Ca ira«, »Danny's Pan«, »Steve Club« und »Go-In«. Diese verrauchten Musikkneipen erinnert jeder, der das damalige Westberlin kennt.

Ich friste in einem Loch unterm Dach
als armer Hund mein Dasein,
hab' wenig zu essen, drum lieg' ich oft wach
und hung're bei Wasser und Wein.


Wie eine Parallelwelt erlebt der Rebell das jährliche »Chanson Folklore International«auf Burg Waldeck, zu dem er erstmals 1966 vor großem Publikum auftritt. Hannes Wader begeistert die Besucher des Folk-Festivals derartig, dass er seine Songs mehrfach wiederholen muss. Sein damaliges Repertoire besteht gerade mal aus drei, vier Songs. Der Begriff »Zugabe« ist ihm noch unbekannt.

Neben der Ersterfahrung mit einem riesigen Publikum lernt Hannes Wader andere Musiker kennen. Schobert und Black, Franz Josef Degenhardt, Zupfgeigenhansel, Ingo Insterburg, Hanns Dieter Hüsch, Eddi und Finbar Furey sowie andere bekannte Namen jener Tage, zählen dazu. Mit Reinhard Mey begründet er eine lebenslange Freundschaft.

Zurück in Berlin politisiert ihn die Außerparlamentarische Opposition (APO). Die Massendemonstrationen gegen den Völkermord der USA in Vietnam und gegen den Schah von Persien, gipfeln in der Erschießung von Benno Ohnesorg durch einen Polizisten. All das berührt ihn stark und fließt in seine kritischen Liedtexte. 1969 erscheint durch den Einsatz Knut Kiesewetters seine erste Schallplatte »Hannes Wader singt«. Auf 35 Studio- und Live-Alben wird er es im Laufe der nächsten fünfzig Jahre bringen.

Wader trampt durch Europa. Er wird als heimlicher Unterstützer der RAF beschuldigt und mindestens ein Jahrzehnt lang von sogenannten Verfassungsschützern verfolgt und bespitzelt. Seine Lieder, Chansons und Talking-Blues-Stücke werden spitzzüngiger und kommen auf den Index. Das bundesrepublikanische Radio und Fernsehen boykottiert den Barden.

Ich bin unterwegs nach Süden
und will weiter bis ans Meer,
will mich auf heiße Kiesel legen,
und dort brennt die Sonne mir
die Narben aus dem Nacken.

Irgendwann wird ihm Berlin zu stressig und auch im Süden findet er keinen Liegeplatz. 1973 zieht er in eine Windmühle in Struckum/Nordfriesland. Bei Hochprozentigem freundet er sich mit Nachbarn an, die ihm bei der Restaurierung helfen. Er erlebt aber auch wieder den ungebrochenen Nazigeist in den Köpfen Ewiggestriger. Die sehen in Wader, der auf einem Pferd wie ein Schimmelreiter durch die Landschaft reitet und in den vielen Langhaarigen, die künftig die Mühle besuchen, »Zigeuner« und »Gammler«, die der »Führer« zu vergasen vergaß.

Auf der Suche nach einer Familie, nach Bindung und Festigkeit findet Wader zur marxistischen Weltsicht und bekommt mit der materialistischen Philosophie eine Welterklärungslehre, die ihn fasziniert. 1977 tritt er in die DKP ein und betrachtet diese Bastion als lebensrettend. Künftig wird er als Sänger von Arbeiterliedern wahrgenommen und aufgrund seiner vollen Stimme mit dem Arbeitersänger Ernst Busch verglichen. Sein »Lied der Moorsoldaten« lässt Zuhörern Schauer über den Rücken laufen und ist eine deutliche Kampfansage gegen alte und neue Nazis.

Politische Lieder im Westen? Verständnislos beobachtet seine Schallplattenfirma, dass Waders Umsätze ständig steigen, statt wie erwartet zu sinken. Denn allen Unkenrufen zum Trotz wird Wader Klassenbester der deutschen Folkliedermacher. Er gastiert in der DDR und der Sowjetunion, kommt aber angesichts der Verhältnisse, die er dort erlebt, rasch in Konflikt mit seiner Weltsicht. Mit dem Zusammenbruch der DDR entstehen neue Irrungen und Wirrungen. 1991 verlässt er die Partei, was ihm Kollegen wie Degenhardt allerdings jahrelang übelnehmen.

Er wechselt wieder seinen Standort und zieht nach Mittelholstein. Er tourt mit Konstantin Wecker, es entstehen Alben mit Reinhard Mey und Klaus Hoffmann. 2008 landet die junge Familie in Kassel, Hannes Wader ist inzwischen seit zwölf Jahren mit Cordula verheiratet und Vater von zwei Kindern. Hier bewohnen Waders heute ein eigenes Haus. Neben der Arbeit im Biogarten vollendet der Liedermacher, der 2017 seinen Abschied von der Bühne nahm, als Krönung seines Werkes die Autobiographie »Trotz alledem«.

Wader erinnert sich in »Trotz alledem« äußerst detailliert an Kindheit und Jugend. Diese Zeit füllt fast ein Drittel seiner Lebensbeichte und ist vor allem für jene interessant, die Bielefeld kennen und einen Einblick in die Welt einfacher Schichten nehmen will. Je näher der Autor der Gegenwart kommt, desto stärker beschleunigt er das Tempo seiner Autobiographie. Natürlich ist es schwierig, über Zeiten und Ereignisse zu schreiben, die viele Leser erinnern und als Zeitzeugen eigene Sichtweisen anmelden können. Irgendwann wird ein Buch auch zu dick und unlesbar, oder der Verfasser will einfach irgendwann mit der eigenen Geschichte abschließen.

Heute hier, morgen dort,
bin kaum da, muss ich fort,
hab' mich niemals deswegen beklagt,
hab' es selbst so gewählt,
nie die Jahre gezählt,
nie nach gestern und morgen gefragt.


Unausgesprochen steht Waders wohl bekanntester Song »Heute hier, morgen dort« über seiner Biographie. Es ist das Motto, das sein Leben beschreibt.

Hannes Wader zeichnet sein Leben als das eines Getriebenen, eines Romantikers, der ruhelos von einem Ort zum nächsten zieht. Er öffnet sich in all seiner Verletzlichkeit als Mensch, der in der Kindheit wenig Nestwärme erfuhr und ein ganzes Leben danach sucht. Als fahrender Sänger würde er so schrecklich gern Wurzeln schlagen. Er stürzt sich immer wieder mit Feuereifer in neue Beziehungen und Projekte, schafft es jedoch nicht, sesshaft zu werden. Selbst im Alter ist er immer noch mit einem Bein auf der Flucht und lebt mit zwei Küchen und Wohnräumen räumlich getrennt von seiner Frau.

Süchte bestimmen Waders Leben. Alles was er macht, geschieht exzessiv. Rauchen, Saufen, selbst das Fernsehgucken wird zu einer Angewohnheit, die er maßlos betreibt. Er absolviert Entziehungskuren, schafft es eine Weile, oft sogar jahrelang, bis er doch wieder in alte Gewohnheiten zurückfällt. Den Fernseher schmeißt er eines Abends in hohem Bogen aus dem Fenster und duldet anderthalb Jahrzehnte keine Flimmerkiste in seinem Heim.

Viele Schilderungen tragen den Geruch des Extremen. Dabei pendelt das Gemüt des Liedermachers zwischen himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt. Hannes Wader spricht mit großer Offenheit von depressiven Schüben, unter denen er immer wieder leidet. Er weigert sich eine Zeitlang, Briefe zu öffnen, um die Rechnungen nicht wahrhaben zu müssen, die ins Haus trudelten. Seine Frau übernimmt irgendwann die Buchhaltung und kümmert sich um den Schriftkram. Von dann an geht es auch wirtschaftlich bergauf, siebenstellige Schulden bei Banken und Finanzamt können allmählich abgetragen werden, und heute wirkt es fast so, als habe der König der Liedermacher vor, schuldenfrei von dieser Bühne abzutreten.

Jemand, der seine Memoiren verfasst, fühlt den Tod nahen.
Ich bin ein lebender Kämpfer.
Ich möchte über den Hunger schreiben, der das skandalöseste Massaker der Welt ist
!

Hannes Wader hat alles geschafft, was nach alter Väter Sitte zählt: Er hat ein Haus gebaut, Kinder gezeugt, (Kirsch)Bäume gepflanzt und als Sahnehäubchen obendrauf eine Autobiographie geschrieben. Es ist die Lebensgeschichte eines Rebellen, eines unbeugsamen Mannes, der seinen inneren Stimmen und Träumen folgte und auf diese Weise in künstlerischer Hinsicht Großes schuf. Ob der von seiner Frau zitierte Ausspruch, er habe der Welt seine Lieder geschenkt, für mehr habe er keine Zeit, tatsächlich so gefallen ist oder nicht, ist unerheblich.

Die Welt des Hannes Wader hat für andere wenig Gefühl, er ist ein Mann der großen alten Männerfreundschaften, der Freundschaften, die man on the road, in der Kneipe und beim Musikmachen begründet und die einen oft jahrzehntelang begleiten. Gehen diese Bindungen in die Brüche, bekommt das Herz des auf seinem Pferd durchs Watt trabenden Lonely Riders einen Riss. Frauen kommen in dieser Welt nur dann vor, wenn sie sich selbst ihren Platz erobern.

»Trotz alledem« ist ein faszinierendes Werk der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte. Es ist ein anschauliches Beispiel für das Vermögen eines starken Charakters, seinen Jugendträumen zu folgen und ein Leben lang daran zu arbeiten, diese zu verwirklichen.

Erstveröffentlichung auf Literaturzeitschrift.de
Foto: bielefelder baeche.de

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